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Schweiz/Ausland
11.12.2022
20.12.2022 09:24 Uhr

Sepp Blatter: «Ich fühle mich zur Hälfte als Afrikaner»

Marokkanische Ekstase: Torschütze Youssef En-Nesyri lässt sich von seinen Teamkollegen feiern. Bild: Linth24
Sensation in Katar. Die marokkanische Nationalmannschaft schreibt Fussballgeschichte und qualifiziert sich als erste afrikanische Auswahl für einen WM-Halbfinal. Sepp Blatter über seine Liebe zu Afrika.

Seit 1930 wird die Fussball-Weltmeisterschaft ausgetragen. Der afrikanische Kontinent spielte dabei aber nur eine Nebenrolle. Es dauerte beispielsweise bis 1974 – ehe sich mit Zaire erstmals eine Nation aus dem Süden der Sahara für die Endrunde qualifizierte. Sportlich war für die afrikanischen Vertreter immer spätestens in den Viertelfinals Schluss: Kamerun (1990), Senegal (2002) und Ghana (2010) schafften es immerhin in die Runde der letzten acht. Die Prognose der brasilianischen Fussballlegende Pelé («spätestens 2006 wird eine afrikanische Mannschaft Weltmeister») ist schon lange überholt.

Portugal: vom 6:1 zum 0:1

Doch ausgerechnet in Katar schreibt nun ein afrikanischer Vertreter ein kleines Fussballmärchen – Marokko. Die «Löwen vom Atlas», die mit Spanien bereits im Achtelfinal einen grossen Turnierfavoriten rausgeworfen hatten, setzten sich im Viertelfinal gegen Portugal sensationell 1:0 durch – gegen jene Mannschaft also, die am vergangenen Dienstag die Schweiz nach allen Regeln der Fussballkunst zerlegt und 6:1 bezwungen hatte.

Marokko ist als Mannschaft eng zusammengewachsen. Die technische und psychologische Basis des Teams ist hervorragend. Und jetzt winkt sogar der ganz grosse Coup – im Halbfinal gegen Frankreich. Die Aufgabe ist sehr schwierig – aber nicht unlösbar. Wenn die marokkanische Mannschaft gegen den Titelverteidiger mit dem gleichen Selbstvertrauen spielt, mit dem sie gegen Spanien und Portugal aufgetreten ist, und ein bisschen Glück hat, dann kann sie es schaffen.

Auch neben Marokko gehört Afrika für mich zu den grossen Gewinnern dieser WM. Als ich gesehen habe, wie Ghana Südkorea mit 3:2 besiegt hat, wie der Senegal ins Achtelfinale eingezogen ist, habe ich grosse Emotionen empfunden. Ich sage «Bravo» zu Afrika und heute kann ich sagen, dass ich mich auch zur Hälfte als Afrikaner fühle. Man sieht, dass im Kontinentalverband gute Arbeit geleistet wurde, und ich hoffe, dass die Fifa noch mehr tut, um den afrikanischen Fussball, die Meisterschaften und die Ligen zu entwickeln. Vor 50 Jahren war ich an der Ausarbeitung der ersten Programme zur Entwicklung des Fussballs in Afrika beteiligt, und 2010 brachten wir die WM nach Südafrika. Dies war eines meiner grossen Highlights. Vor allem die Begegnungen mit Nelson Mandela lösen bei mir noch immer Hühnerhaut aus.

Marokkaner besser als Schweizer

Aber zurück nach Katar – und zur marokkanischen Mannschaft. Sie machte gegen Portugal all das richtig, was die Schweizer vier Tage zuvor falsch gemacht hatten: Das Team kämpfte solidarisch, hielt sich minutiös an die taktischen Vorgaben und gab keinen Zentimeter Rasen freiwillig preis. Damit gewinnt es keinen Schönheitspreis. Doch die Defensive des Teams von Trainer Walid Regragui ist weltmeisterlich. Noch keiner Mannschaft gelang gegen Marokko ein Torerfolg. Der einzige Gegentreffer des grossen Aussenseiters im bisherigen Turnierverlauf war ein Eigentor.

Auch der Erfolg gegen Portugal basierte auf rustikalen Qualitäten: leidenschaftlicher Kampfgeist, unnachgiebiger Körpereinsatz und eine Disziplin, die als Lehrstück dienen kann. Und im entscheidenden Moment schlugen die Marokkaner gnadenlos zu – als der portugiesische Goalie Diogo Costa kurz vor der Pause eine Flanke falsch einschätzte, war Youssef En-Nesyri zur Stelle.

In der 51. Minute kam auf portugiesischer Seite Cristiano Ronaldo ins Spiel. Der Favorit erarbeitete sich über 80 Prozent Ballbesitz. Doch am Resultat änderte sich nichts mehr. Damit wurde doppelte Fussballgeschichte geschrieben: Marokko lässt ganz Afrika jubeln – und die Ära von Cristiano Ronaldo in der portugiesischen Nationalmannschaft dürfte an diesem Abend zu Ende gegangen sein.

Englands Penaltytrauma

Bitter endete die WM in Katar auch für das englische Team. Gegen Frankreich war England zwar die engagiertere, kompaktere und bessere Mannschaft. Doch einmal mehr versagte sie vom Penaltypunkt aus. So lachten am Schluss die Franzosen – mit ihrem Ausnahmekönner Kylian Mbappé und den Evergreens Olivier Giroud und Antoine Griezmann. In der letzten WM-Woche bietet sich der Mannschaft von Trainer Didier Deschamps eine historische Chance. Als erstes Team seit Brasilien vor 60 Jahren kann Frankreich den WM-Titel erfolgreich verteidigen. Doch aufgepasst: Die Löwen vom Atlas haben etwas dagegen!

Sepp Blatter