17. November
Tania
Es gab zwei Arten des Abnabelungsprozesses: den friedlichen, sich über Jahre hinziehenden, kaum merkbaren. Und den kurzen, schmerzhaften. Ratsch, Pflaster ab. Einmal aufgeheult, durch. Problematisch wurde es dann, dachte Tania, wenn die beiden Parteien, Eltern und Kind, nicht dieselbe Vorstellung davon hatten, und drückte den Anruf ihrer Mutter weg. Es war neun Uhr morgens, konnte sie sie nicht einfach ihr Leben leben lassen, ohne sich weiterhin einzumischen?
»Soll sie sich doch ein Haustier zulegen, wenn sie sich einsam fühlt. Es gibt nichts Besseres als eine flauschige, warme, schnurrende Katze, nicht wahr, meine Süße?«, murmelte sie Tigris ins getigerte Fell und kraulte ihren Bauch, bis das Tier vor Vergnügen alle viere von sich streckte. Durch ihre entzückten Laute hindurch vernahm Tania aber noch etwas anderes: ein verzweifeltes dumpfes Maunzen.
»Hast du deinen Bruder wieder im Vorzimmerschrank eingesperrt, du Schlingel?« Sie drückte der Katze einen letzten Kuss zwischen die Ohren und erhob sich, um Euphrat aus seinem Gefängnis zu befreien. Wahrscheinlich hatte ihre Mitbewohnerin Clémentine den Schrank nicht richtig geschlossen, als sie vor einer Stunde die Wohnung verließ, der neugierige, aber auch ein wenig einfältige Kater war hineingeschlüpft und Tigris hatte die Tür zugeschubst, bevor sie zu ihr ins Zimmer gekommen war, um ihre Streicheleinheiten einzufordern. Es war ein Spiel, das sie wiederholte, wann immer sich ihr die Gelegenheit bot, wahrscheinlich einfach, um zu demonstrieren, wer von den beiden Tieren mehr Macht besaß. Manchmal wünschte sich Tania, sie könnte ihre Gedanken auch einfach in einen Schrank stecken und sie damit in ihre Schranken verweisen, aber als sie die Tür öffnete und den Kater hochhob, er sie mit großen, dankbaren Augen ansah, sah sie Simon vor sich, die Liebe in seinem Blick, und sofort sammelte sich die Wut wieder in ihrem Bauch wie kleine magnetische Splitter, angezogen von etwas, das nicht mehr war.
Zwei weitere verpasste Anrufe in den letzten fünf Stunden.
»Sag mal, ruft dich deine Mutter auch gefühlt jeden Tag an?«, fragte sie ihren Kommilitonen, während sie ihre Unterlagen in die Tasche packte. Sie kannte nicht einmal seinen Namen und er ihren wahrscheinlich auch nicht, so verwirrt, wie er sie anschaute.
»Ich wohne noch bei meinen Eltern, ich sehe sie täglich, also …«
Tania winkte ab, schulterte ihren Rucksack und verließ den Hörsaal. Ausziehen, das war das Erste gewesen, was sie getan hatte, nachdem sie wieder hatte klar denken können. Jeden Tag das Gesicht ihrer Mutter sehen zu müssen, wie sie sie mitleidig und um Verständnis heischend anblickte, das würde sie nicht ertragen. Zum Glück hinterließ sie nie eine Nachricht auf der Mailbox, sodass Tania ihre Stimme nicht hören musste, und auch bei Whatsapp beschränkte sie sich auf das Schreiben, als wüsste sie, dass sie diese Grenze nicht überschreiten durfte. Die Nachrichten wischte Tania weg, sie sah ja in der Vorschau, in der die erste Zeile auftauchte, dass es sich immer um dasselbe drehte. Kannst du bitte … Können wir nicht einfach … Findest du nicht, dass langsam … Wie gern würde sie die Nummer ihrer Mutter blockieren, um sich diese Arbeit zu sparen, aber da war noch ein kleiner Widerstand in ihr, ein feinster Schmerz, den der klare Schnitt selbst nach einem Jahr noch aussandte, als ob einige unsichtbare Fäden dieser Nabelschnur zwischen Mutter und Tochter nicht durchtrennt worden wären und nun ziepten. Tania erwischte sich dabei, wie sie in solchen Momenten innehielt und in sich hineinhorchte. Er war da, der Schmerz, er war unangenehm und wollte erlöst werden, aber er war nie so groß wie die Wut.
Mitte November, der Himmel war grau, die Gebäude waren grau, der Fluss war grau; Nieselregen begleitete Tania auf ihrem Weg von der Eidgenössischen Technischen Hochschule zum Zürcher Hauptbahnhof. Ihr Hunger rief nach einem Döner, stattdessen packte sie im Gehen ein belegtes Brot aus dem wiederverwendbaren Wachstuch. In einer halben Stunde fing ihre Schicht an der Supermarktkasse in der Bahnhofspassage an. Wer unabhängig sein wollte, musste eben arbeiten und die Ausgaben klein halten. Hauptsache, sie musste nicht ihre Mutter um Geld bitten. Außerdem hatte Simon auf seinem Heimweg hier immer wieder mal eingekauft; dass sie den Job überhaupt bekommen hatte, war ihr wie ein Wink des Schicksals erschienen, so als wäre das letzte Wort noch nicht gesprochen.
Der Tumult in der Bahnhofshalle elektrisierte sie. Lautsprecheransagen kündigten abfahrende und ankommende Züge an, bremsende Räder quietschten auf den Schienen, Menschen, die rannten, Menschen, die lachten, unweit von ihr stritt sich ein älteres Paar auf Französisch, irgendwo erklang das rhythmische Klacken eines Blindenstocks. In wenigen Tagen eröffnete der Christkindlmarkt in der großen Halle, die Vorbereitungen waren in vollem Gange. Sie freute sich auf den riesigen Tannenbaum und die über hundert Stände, auf den Duft von gebrannten Mandeln, Zimt und Glühwein. Im Moment jedoch roch es nach Kaffee, Bratwürsten, nassen Mänteln und Pendlerstress. Einfach in einen Zug steigen und irgendwohin fahren, dachte Tania, woanders jemand anderes sein, dachte sie, und dann wischte sie diese dummen Gedanken wieder weg, als wären sie Regentropfen vor ihrer Sicht; sie brauchte aber einen klaren Blick. Hier war sie Simon das erste Mal begegnet, sie hatte nach oben gestarrt, auf die Anzeigetafel, er war in sie hineingestolpert und sie hatte ihren Kaffee verschüttet. Klassiker. Damit hatte alles angefangen. Ach Simon … Tief holte sie Luft. Das Vermissen tat körperlich weh. Sie hatte auch mit dem Gedanken gespielt, bei ihm zu Hause aufzukreuzen, zumindest in seiner Straße zu warten oder an der Haltestelle des Busses, den er nach der S-Bahn noch nehmen musste. Sie traute sich nicht. Sie war nie bei ihm zu Hause gewesen, und der Gedanke daran fühlte sich an wie ein Einbruch in seine Privatsphäre, die ihr nicht mehr offen stand. Sie war schließlich keine Stalkerin! Oder höchstens ein kleines bisschen … Ihr Blick blieb an einem jungen Mann hängen, der aussah, als beobachtete er sie schon seit einer Weile, und ganz automatisch lächelte sie und er lächelte zurück, gewinnend, einladend. Abrupt drehte sie sich um. Was tat sie da? Sie war nicht bereit für jemand anderen.
Pieps, pieps, pieps, ein Produkt nach dem anderen zog sie über den Scanner, einen Beutel Salat, eine Flasche French Dressing, einen Camembert, eine Doppelpackung Speckwürfel, eine Packung Banana-Split-Eis, neunundzwanzig Franken und dreißig Rappen macht das bitte, Cumulus-Karte? Einen schönen Nachmittag wünschen, dann einen schönen Abend, immer freundlich lächeln und dabei die Kunden an allen Kassen beobachten, hoffen, hoffen.
Der ältere Herr, der an der Reihe war, legte vier Dosen Katzenfutter und eine Packung Lebkuchen aufs Band. In fünf Wochen war Weihnachten. Seit der Scheidung ihrer Eltern, da war sie neun oder zehn gewesen, hatte sie Weihnachten immer mit ihrer Mutter gefeiert. Ein richtiger kleiner Weihnachtsfreak war ihre Mutter gewesen, hatte die Wohnung schon vor dem ersten Advent geschmacks- und stimmungsvoll dekoriert, Kerzen, Plätzchen, Lebkuchen, Leise rieselt der Schnee. Letztes Jahr hatte Tania allein mit Euphrat und Tigris in ihrem kahlen WG-Zimmer gesessen und geweint, wegen Simon, hatte sie gedacht, aber eigentlich auch ein bisschen, weil … Nein, was dachte sie da? Sie vermisste ihre Mutter nicht. Etwas zu hastig zog sie die Lebkuchenpackung über den Scanner, sie flog davon, und als Tania ihr erschrocken nachsah, erblickte sie ihn.
»Simon!«
Der ältere Herr schaute verwirrt zwischen ihr und dem Lebkuchen hin und her, nach dem er sich dann bückte, während Tania sich hinter der Kasse hervordrängte und sich durch das Gewühl schlängelte, dem hochgewachsenen Mann hinterher. Aber als sie ihn erreichte, sich vor ihn stellte und endlich, endlich Tacheles reden wollte – »Warum hast du nachgegeben, wie konntest du einfach nicht um uns kämpfen, warum hast du meine Nummer blockiert, wir hätten uns weiterhin sehen können, im Geheimen, noch geheimer« –, war es nicht ihr Exfreund, ganz und gar nicht, wieder einmal nicht.
»Frau Weber.« Ihre Vorgesetzte packte sie am Ellbogen und manövrierte sie zu ihrer Kasse zurück. »Das war der zweite Vorfall dieser Art, seit Sie hier angefangen haben. Noch einmal sollten Sie sich das nicht erlauben, haben wir uns verstanden?«
Kleinlaut nickte sie und stellte sich wieder hinter ihre Kasse.
»Entschuldigen Sie bitte«, murmelte sie und nahm dem Kunden den Lebkuchen aus der Hand. »Das macht elf Franken und neunzehn Rappen. Cumulus-Karte?«
Der Herr hielt ihr das Geld und die Karte hin. »Liebeskummer?«, fragte er freundlich.
Tania nickte und ließ das Wechselgeld in seine offene Hand fallen.
»Er geht vorbei, wissen Sie?«, sagte er. »Er geht vorbei, auch wenn Sie es jetzt nicht glauben wollen. Vertrauen Sie einem alten Mann wie mir.«
Sie lächelte gequält. Er sollte doch nicht vorbeigehen. Er sollte gar nicht erst angefangen haben.