1. Dezember
Kati
»Jaja, hier kriegst du dein Cover«, murmelte Kati. »Zum dritten Mal den Klappentext ausgetauscht, bitte schön, kein Ding, du nervst mich überhaupt nicht.« Zack, abschicken, PC runterfahren, Bildschirm aus. Kam es ihr nur vor oder wollten heute alle eine Extrawurst? Wie sie manchmal ihren Job einfach hasste. Sie lehnte sich in ihrem Bürostuhl zurück und streckte sich, bis die Wirbel knacksten. Vor dem Fenster war es schon fast dunkel, was im Grunde genommen nur minimal düsterer war als während des restlichen Tages. Hochnebel lässt grüßen. Grau in grau in grau in grau. Wie ein Deckel lag er über der Stadt, und Kati tat bereits seit Tagen der Kopf weh, als ob sie versuchte, mit dem Schädel die zähe Nebeldecke zu durchstoßen.
Von einem Moment auf den anderen erhellten bunte Farben das Dunkel und ihr Wohnzimmer, das ihr auch als Arbeitsplatz diente; es war fünf Uhr und die Lichterkette des Nachbarn gegenüber war angegangen. Wild wechselte Grün zu Blau zu Rot zu Gold und wieder von vorn, und so würde es die nächsten paar Stunden weitergehen, pausenlos, stroboskopähnlich. Von besinnlich keine Rede, meine Fresse, dachte Kati, am liebsten würde sie mit einer Luftpistole jede einzelne Glühbirne auspusten. Mit einem Knall ließ sie die Rollos runter und stieß sich dann in der Dunkelheit prompt den großen Zeh am Couchtisch.
»Ah!« Tränen schossen ihr in die Augen; sie tastete sich zum Sofa, setzte sich und umklammerte ihren Fuß. »Verdammt, verdammt!« Tief atmete sie ein und wieder aus, tastete wieder, dieses Mal nach dem Feuerzeug, ratsch, ratsch, es werde Licht. Wie so eine kleine Flamme die alles verschlingende Finsternis in ihre Schranken weisen konnte, war wirklich faszinierend. Kati zündete eine der vier dicken roten Kerzen an, die sie auf einem rustikalen Holzbrett arrangiert hatte, dazwischen Tannenzweige und goldene Christbaumkugeln, ein paar weiß bepuderte Kiefernzapfen und ein kleiner Wichtel, der schon den Adventskranz ihrer Eltern geschmückt hatte. Der erste Advent war eigentlich erst in zwei Tagen, aber das kümmerte sie nicht.
Die Flamme flackerte kurz, dann schien sie stillzustehen, unbeweglich, und das warme Schimmern legte sich wie Balsam um Katis Nerven. Langsam verebbte diese seltsame Aggression, die sie seit ihrem Geburtstag fest im Griff hatte, und auch wenn das miese Wetter seinen Teil dazu lieferte, der Arbeitsstress, der schmutzige Matsch, der nach dem überraschenden Schneefall vorgestern übrig geblieben war, die überall blinkenden Lichter und das Geplärre der Weihnachtsmusik, konnte sie sich jetzt, in der Stille, eingestehen, dass es in Wahrheit Marthas Geschenk war, das ihre ungewohnt schlechte Laune ausgelöst hatte. Sie setzte sich in den Schneidersitz und breitete die flauschige Decke über ihren Schoß. Der Zeh pochte zwar noch, aber sie konnte ihn schon wieder bewegen. Eine Tasse heißer Kakao wäre jetzt nicht schlecht, dachte sie, mit viel Zimt. War ja nicht so, dass sie den Winter oder die Weihnachtszeit nicht mögen würde, sie mochte nur das Wetter und den Trubel nicht. Das Bild einer schneebedeckten Landschaft tauchte vor ihrem inneren Auge auf, Tannen, die sich unter der weißen Last bogen, Bergspitzen, die in der Morgensonne glühten, Eiskristalle, die im Licht glitzerten. Sie hörte den Schnee unter ihren Schritten knirschen und roch die Kälte. Friedlich. Genau das bot ihr Martha.
Das Bild verrutschte.
Kati seufzte tief. Sie sollte nach einer Ausrede suchen. Die Arbeit zog ja schon mal nicht, denn den Laptop konnte sie mitnehmen. Ihre Eltern? Die lebten seit der Pensionierung während der kalten Monate in Thailand. Sie könnte sie besuchen? Zu teuer so kurzfristig. Grippe vortäuschen? Martha würde prompt bei ihr auf der Matte stehen. Die Flamme flackerte. Egal welche Ausrede sie brächte, Martha würde schrecklich enttäuscht sein. Natürlich würde sie das, ihr Geschenk kam von Herzen, und Katis Zögern, ihr unwillkürliches Zurückzucken hatte ihre Freundin verletzt. Diesen Anflug von Traurigkeit hatte Kati in den letzten Monaten immer wieder gesehen, ganz kurz, nicht wahrnehmbar für Fremde, aber sie kannte sozusagen jede Regung in Marthas Gesicht.
»Es führt kein Weg dran vorbei, nicht wahr?«, fragte sie den Wichtel. Und wenn sie nicht wüsste, dass es das Spiel von Licht und Schatten war, würde sie glauben, die kleine Figur hätte ihr zugezwinkert.