15. Dezember
Florian
Auch wenn ihm der Gedanke nicht gefiel, musste er zugeben, dass er froh war über Tanias Auftauchen. Sie lenkte Emma von ihrer schlechten Laune ab, in der sie sich seit ihrer Ankunft suhlte. Die Überraschung war ihm natürlich gelungen; er hatte Emma erst gestern beim Abholen gesagt, dass sie den Koffer für ein Wochenende im Schnee packen sollte, und sie war ausgeflippt vor Freude. Was bedeutete, dass seine Mutter dichtgehalten hatte. Das rechnete er ihr hoch an, wusste er doch, wie nah sich die beiden standen. Aber auch er war ernüchtert gewesen, als sie vor diesem Ruhehotel gestanden hatten, gerade mal fünf Zimmer, kein Wellness außer die Sauna, für deren Benutzung man sich eine Stunde davor anmelden musste, kaum verwendbares Handynetz, kein Spaß, kein Après-Ski, weil keine Skipiste in der Nähe. Gestern war ein älteres Paar abgereist und heute Morgen ein weiteres, und sie dachten schon, sie wären die einzigen Gäste, bis die Dame, die anscheinend Tanias Mutter war, aufgetaucht war, dann Tania selbst, und als sie das Hotel verlassen hatten, war ihnen noch ein Auto entgegengekommen. Entgegengekeucht, besser gesagt.
»Wenn du dich auf die vom Tal abgewandte Seite des Chalets setzt, ist es abends richtig finster«, erzählte Emma Tania, während sie durch die Sträßchen des Dorfes schlenderten. Beim Reden formten sich Wölkchen vor ihrem Mund, die eigentlich sofort gefrieren müssten, so kalt war es. »Schon fast gruselig. Aber ich habe noch nie so viele Sterne gesehen. War nett von Chasper, uns darauf aufmerksam zu machen. So romantisch!«
»Wer, Chasper oder die Sterne?« Tania sagte es ohne ein Lächeln, wie sie generell alles sehr trocken kommentierte, aber Emma schmunzelte dennoch.
»Chasper ist nicht ohne. Aber die Sterne schau ich mir dann doch lieber mit meinem Flo an.«
»Zu gütig, Süße«, murmelte Florian und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn, nicht ohne dabei zu Tania zu schielen. Wieso, wusste er nicht. Nur kurz erwiderte sie seinen Blick, dann drehte sie den Kopf weg, als fühlte sie sich ertappt.
Das Dorf war überschaubar, aber richtig urig-hübsch mit den bemalten Hauswänden, den großen hölzernen Eingangstoren, der Kirche mit dem pummeligen Turm, alles mit glitzerndem Schnee übergossen wie mit dicker Puderzuckerglasur. In der Mitte des Dorfplatzes stand ein Brunnen, das Wasser darin gefroren, vom Rohr hing ein Eiszapfen. Touristen schienen sich nicht viele hierher zu verirren, was Florian nicht wunderte, so abgelegen, wie das Dorf lag, am Ende eines Tals, ohne Skigebiet in der Nähe. Irgendwo bellte ein Hund, Stimmen wurden kurz laut, jemand grüßte, dann fiel eine Tür dumpf ins Schloss und Stille breitete sich wieder aus. Nur der Schnee knirschte unter ihren Schuhen, fast meditativ.
Den Weg zur Dorfbeiz hatten Emma und er gestern schon ausgekundschaftet, das war vor den Sternen und den Rehen gewesen und dementsprechend noch von schlechter Laune geprägt.
»Ich will ja nicht undankbar sein, wirklich nicht«, hatte Emma gemeint. »Aber bevor du deinen Eltern die Reise abgekauft hast, hättest du dich wirklich informieren können, um was für eine Art Hotel es sich handelt und stattdessen was anderes buchen können.«
»Dann wären sie auf den Kosten sitzen geblieben. Nicht stornierbar, hab ich dir doch erklärt. Wenn sie schon nicht fahren können …«
Emma hatte sich geschlagen gegeben; wenn es darum ging, seinen Eltern einen Gefallen zu tun oder eine Freude zu bereiten, war sie immer vorn dabei. Ein bisschen verstand er sie, ihre Eltern waren geschieden und beide neu verheiratet, zwei Patchworkfamilien, in die sie weder in die eine noch in die andere reinpasste.
Aber es lief dennoch nicht so rund, wie er sich dieses Wochenende vorgestellt hatte. Er verfluchte seinen Opportunismus, einfach zugegriffen zu haben, als sich ihm die Chance bot, bei Emma zu punkten; er hatte darauf vertraut, dass sein Vater schon ein anständiges Hotel ausgewählt hatte, um seine Mutter zu beschenken. Tja, Fehlgriff. Musste er eben anders überzeugen.
Das Innere der Bar Postigliun, wie die Kneipe hieß, war bei Weitem nicht so malerisch, wie sie von außen aussah. Nippes und Kitsch auf den breiten Fensterbänken, Plastikblumen auf den Holztischen, alte Lodenhüte mit Gamsbart an der Wand, und ja, ein Geweih. Es roch nach einem aggressiven Zitronenputzmittel. Die Dartscheibe an der Wand und der blinkende Flipperkasten daneben. Am runden Tisch in der Ecke saß die Altmännerfraktion des Dorfes und jasste verbissen, hin und wieder wurde neben dem schlechten Blatt auch über die Politik diskutiert und über das Wetter natürlich sowieso.
»Genug Schnee hat’s schon«, maulte gerade einer. »Ist besser, dass die Front an uns vorbeizieht.«
»Werden wir ja noch sehen«, meinte ein anderer und legte eine Karte ab. »Mein Knie hat mich noch nie im Stich gelassen.«
Tania zog ihr Handy aus der Tasche, und Florian sah, wie sie auf die Wetter-App drückte, aber es erschien nur ein sich ewig drehender Kreis. Er fischte die Tageszeitung von der Fensterbank und schlug die letzte Seite auf. Sonne und Wolken sowohl morgen als auch Sonntag.
»Wollen wir Wetten abschließen?«, fragte Tania flüsternd. »Knie oder Meteorologen?«
Emma grinste, und so grinste er auch. Aber bevor er einen Wetteinsatz vorschlagen konnte, stand der Typ vor ihnen, der sie auch gestern schon bedient hatte. Gian oder Gion hatte er geheißen.
»Willkommen zurück. Beim zweiten Besuch seid ihr bereits Stammgäste«, sagte er. »Und wenn ihr weitere Kundschaft mitbringt, seid ihr Ehrengäste.« Dabei zwinkerte er Tania zu, und Florian bemerkte, wie sie wieder kurz zu ihm rüberblickte, bevor sie mit einem halben Lächeln auf die Charmeoffensive antwortete.
»Was darf es heute sein?«
Die Frauen bestellten beide eine heiße Schokolade mit Schuss, und auch er entschied sich am Ende doch gegen ein kaltes Bier und für den Kakao. Er beobachtete Tania dabei, wie sie gedankenverloren das Sahnehäubchen unter das Getränk rührte. Sie hatte die käsige Gesichtsfarbe von Menschen, die sich vorwiegend drinnen aufhielten, und immer einen leicht melancholischen Zug um die Augen, den selbst dieses halbe Lächeln, dieses einseitige Anheben der Mundwinkel nicht vertrieb. Jedes Mal, wenn er sie ansah, empfand er das irritierende Bedürfnis, sie anzufassen. Sie in den Arm zu nehmen. Stattdessen griff er nach Emmas Hand, aber schon nach wenigen Sekunden wand sie sich aus der Berührung, um ihre Tasse an den Mund zu führen.
»So, Tania«, sagte sie. An ihrer Oberlippe saß noch etwas Sahne. Erst jetzt fiel ihm auf, dass sie sich ihm gegenüber, neben Tania, gesetzt hatte, statt neben ihn, als wollte sie Distanz zwischen sie bringen, wo sie sonst seine Nähe suchte. Er schloss daraus, dass sie immer noch sauer auf ihn war. »Du bist mit deiner Mutter hier?«, fragte sie. »Finde ich ja richtig schön, könnte ich mit meiner nicht machen, so ein Mädelswochenende.«
Tania schnaubte belustigt. »Glaub mir, ich wär grad überall lieber als hier. Ist kompliziert«, fügte sie hinzu, wohl, als sie das Fragezeichen in Emmas Gesicht sah. Sie hatte unglaublich lange Wimpern, fiel Florian auf und er senkte sofort den Blick in seine halb leere Tasse. Was dachte er da? Ihm wurde auf einmal warm, und das lag nicht am Schnaps im Kakao.
»Kompliziert, da kann ich ein Lied von singen«, rief Emma. »Aber seine Eltern sind richtig cool, hat er gar nicht verdient, mein Großer.« Sie lachte; es klang nicht gemein, gar nicht, im Gegenteil, sie stupste ihn leicht am Arm an und er erkannte den Schalk in ihren Augen. Und doch traf ihn ihre Aussage.
Ohne darauf einzugehen, richtete nun er eine Frage an Tania: »Und was machst du so? Studium, Arbeit? Ich bin Koch und Emma studiert in Luzern Sport und Geschichte auf Lehramt.«
»Huh, Geschichte«, meinte sie. »Hassfach.« Sie sagte es wieder so trocken, dass selbst er nicht einschätzen konnte, ob sie es ernst meinte. Emma kniff leicht die Augen zusammen und für ein, zwei Sekunden schien die Stimmung elektrisch geladen, dann lachte Tania und legte Emma die Hand auf den Arm. »Ich studiere angewandte Informatik. Da verdrehen die meisten auch die Augen.«
Ihre Finger waren lang, Pianistenhände, und er stellte sich vor, wie sie über die Tastatur flogen und Codes tippten, die für ihn ebenso unverständlich waren wie Klaviernoten und dennoch wunderschön.
»Und nebenbei hab ich gearbeitet, aber …« Ihr Lachen erlosch. »Ich hab Mist gebaut.« Dabei sah sie ihn direkt an; verwirrt fragte er sich, warum, was hatte er mit dem Mist zu tun, und wieso verdammt noch mal war es hier drinnen so heiß?
Am runden Tisch in der Ecke wurden die Stimmen der Kartenspieler lauter, Stühle scharrten über den Boden, zwei der Herren klopften sich auf die Schulter. Emma blätterte in der Zeitung. Im Hintergrund klingelte es und Florian beobachtete, wie Gion-Gian gelangweilt ins Festnetztelefon sprach. Tania nahm ihr Handy aus der Tasche, zuckte mit den Schultern und steckte es wieder zurück. Draußen dämmerte es, aber selbst im Halbdunkel konnte Florian erkennen, dass Schleierwolken aufgezogen waren, und er stöhnte lautlos. Wenn das Wetter morgen schlecht war, könnten sie auch direkt wieder abreisen, denn das Hotel bot außer Sauna und Rehe beobachten nichts. Unter dem Tisch suchte er mit seinem Fuß Emmas Beine und verschränkte seine mit ihren; sie sah hoch und lächelte – erfreut? Verwundert? Ein klitzekleines bisschen traurig? Er war ein Idiot. Er hatte sie hierher eingeladen, um diesen Riss zu kitten, nicht, um ihn größer zu machen. Das Hotel war dabei nicht die Lösung, sondern das, was sie daraus machten. Sie könnten auch den ganzen Tag im Bett liegen, kuscheln, sich lieben, sich verwöhnen, reden, Pläne schmieden. Wohnungen online besichtigen, falls das Handynetz es zuließ.
Nachdem die Jass-Mannschaft aufgebrochen und sich die Beiz nicht weiter gefüllt hatte, setzte sich Gion, wie er sich Tania vorstellte, zu ihnen und lud sie auf eine bündnerische Spezialität ein: Röteli, ein Likör, der aus getrockneten Bergkirschen hergestellt wurde. Er würde seinen Küchenchef darauf aufmerksam machen, daraus konnte man bestimmt ein gutes Dessert zaubern. Süß war er und stark und sehr süffig. Er exte sein zweites Glas. Gion erzählte, wie er eigentlich in Davos arbeitete, aber sein Vater dieses Wochenende sonst irgendwo war und er einspringen musste und er … Florian zoomte raus, sprach der Typ doch eigentlich eh nur mit Tania. Die wiederum hing buchstäblich an seinen Lippen, was ihm einen kleinen Stich versetzte, den er nicht einordnen konnte. Boh, der Likör schenkte aber auch ganz schön ein!
»Lass uns ein paar Pfeile werfen«, schlug er Emma vor, auch wenn er wusste, dass sie ihn vernichtend schlagen würde. Er war beim Dart absolut talentfrei, aber sie freute sich wie eine Schneekönigin, wenn sie gewann, also bitte. Hauptsache, sie war glücklich, deswegen waren sie doch überhaupt hier.