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Fussball
09.07.2025

Arigato, Capitão

Der beinharte Innenverteidiger André Luis Neitzke tritt ab. Bild: sport-presse.com
Dieses japanisch-portugiesische Dankeschön gilt dem langjährigen Innenverteidiger und Wahlschaffhauser André Luis Neitzke, der Ende der vergangenen Saison seine Karriere nach fast 20 Jahren als Profifussballer beendete und nun ins Trainerbusiness einsteigt.

Am 24. Mai ging für André Luis Neitzke ein Kapitel zu Ende. Der 38-Jährige, langjähriger Capitano des FC Schaffhausen (171 Pflichtspiele), hat seine Aktivkarriere beim SC Brühl St. Gallen beendet. Vor elf Jahren schlug er in Schaffhausen seine Zelte auf und hinterliess in der Munotstadt einen bleibenden Eindruck.

Japan-Abenteuer prägt Neitzke

Geboren wurde Neitzke 1986 im brasilianischen Bundesstaat Paraná, als Nachfahre italienischer Einwanderer. Seine ersten Schritte machte er bei «Sociedade Esportiva e Recreativa Caxias do Sul». Mit 19 zog es ihn nach Japan zum J1-League-Club «Cerezo Osaka», doch bereits nach einem halben Jahr wurde er bis Ende 2008 an «Tokushima Vortis» ausgeliehen. Die kulturellen Unterschiede waren gewaltig, doch er fühlte sich wohl. «Ich habe früh meine innere Ruhe gefunden», sagt er über diese prägende Zeit. Die japanische Disziplin, der Respekt gegenüber dem Alter, selbst das Essen – all das faszinierte ihn. In Tokushima lernte er den späteren Weltstar Seydou Doumbia kennen. Die beiden wohnten im selben Block, kochten füreinander, wurden Freunde fürs Leben. «Ich hoffe, dass ich Seydou bald wieder sehe.» Drei Jahre dauerte das Abenteuer in Fernost, danach kehrte Neitzke nach Paraná zurück. Voller Hoffnung auf einen Toptransfer – doch es kam anders. Statt gut dotierter Verträge bei Topclubs gab es schlecht bezahlte Notlösungen. Mehrere Vereine hielten ihre Versprechen nicht, oft blieben die Löhne aus. Neitzkes Zukunft im Fussball hing an einem seidenen Faden.

Karriereende schon fast besiegelt

Zurück in seiner alten Heimat spielte der Blondschopf bei Toledo EC eine starke Saison, auch wenn der Verein schliesslich abstieg. Neitzke war 27, sein Glaube an die Karriere bröckelte zusehends. «Ich wollte meiner Frau den Freiraum geben, ihren Weg zu gehen.» Doch Camilla – auch heute sein Fels in der Brandung – ermutigte ihn, ein Bewerbungsvideo in den sozialen Medien zu posten. Damit kontaktierte er auch die Gebrüder Michele und Renato Cedrola aus St. Gallen, die das Material an den damaligen FC-Schaffhausen-Coach und Sportchef Maurizio Jacobacci weiterleiteten. Tatsächlich erfolgte kurze Zeit später ein Aufgebot zum Probetraining in der Munotstadt. Um die Reise zu finanzieren, musste Neitzke sogar sein Auto verkaufen. Doch der Einsatz lohnte sich: Kaum zurück in Brasilien, folgte der ersehnte Anruf mit dem Vertragsangebot über zwei Jahre beim FCS. Schaffhausen war für ihn schon fast wie eine Neugeburt. Die Stadt sei übersichtlich, familiär, entschleunigend. «Ich bekam wieder Freude am Fussball», sagt er. Mit Paulinho, João Vilela, Toni Dos Santos und vielen weiteren Weggefährten entwickelte er enge Freundschaften. Schaffhausen wurde für die Familie zum neuen Zuhause – ein Ort, an dem sie sich für immer niederlassen wollten.

Als der FC Sion 2017 anrief, war Neitzke gerade dabei, einen neuen Dreijahresvertrag beim FCS zu unterzeichnen. Der Wechsel ins Wallis warf alles über den Haufen – und mit einem zwei Wochen alten Säugling war es eine gewagte Mutprobe. In Sion lief nicht alles nach Plan. Gleich beim ersten Spiel wurde er von Trainer Gabri aus dem Kader verbannt. Erst in der Rückrunde durfte er zurückkehren, unter Jacobacci, der zuvor die U21 betreut und nach Gabris Entlassung das Fanionteam übernommen hatte. 2019 wechselte er nach Neuchâtel zu Xamax. Der familiäre Club war ihm sofort sympathisch, doch sportlich verlief die Zeit enttäuschend. Der Abstieg in die Challenge League wurde für ihn zum mentalen Tiefpunkt seiner Laufbahn. «Ich hätte lieber damals schon nach Schaffhausen zurückkehren sollen, als Murat Yakin sich nach mir erkundigte», sagt er rückblickend. Doch als Yakin ein Jahr später erneut anrief, liess sich Neitzke nicht mehr zweimal bitten. «Zu 200 Prozent kannst du auf mich zählen», war seine Antwort. Er löste seinen Vertrag in Neuchâtel auf, packte seine Sachen und kehrte mit seiner Familie zurück in die Nordostschweiz.

Assistenztrainer oder erneuter Wechsel?

Zurück beim FCS, trug er erneut die Captainbinde. Doch das war ihm nie das Wichtigste. «Jeder muss ein bisschen Capitano sein», sagt er. Als Führungsspieler agierte er leise, aber präsent. Er war Ansprechpartner für die Jungen, Vorbild im Training und übernahm Verantwortung, auch bei Fehlern. «Nach einem 0:3 gegen Xamax konnte ich nicht schlafen, weil ich zwei Gegentore verschuldete.»

Obschon André Luis Neitzke plante, seine Karriere beim FC Schaffhausen ausklingen zu lassen, sah er sich weiterhin in der Lage, mit seinen Leistungen einen Beitrag zu leisten. «Der Plan beim FCS war eigentlich, dass ich fortlaufend in die Abläufe als Assistenztrainer eingebunden werde. Doch zugleich war ich mit der Hauptrolle auf der Ersatzbank nicht glücklich.» Wieder war es ein Anruf, der alles veränderte. Denis Sonderegger, Trainer des SC Brühl, machte ihm ein Angebot – samt Arbeitsstelle. Neitzke wägte ab und sagte zu, weil er sich mehr Einsatzzeit versprach. Drei Jahre lang spielte er in der Promotion League, arbeitete tagsüber im Vollzeitpensum, trainierte abends. «Man spürt den Unterschied. Als semiprofessioneller Fussballer fehlt dir nach einem harten Arbeitstag manchmal einfach die nötige Energie.» Während dieser Zeit war er in Wittenbach SG als Magaziner tätig, heute arbeitet er für eine Transportfirma in Wil SG.

Der Wahlschaffhauser André Luis Neitzke gilt als grosser Sympathieträger. «El Capitano» hat im Mai seine Schuhe an den Nagel gehängt und lanciert nun seine Trainerkarriere. Bild: zVg. / FC Schaffhausen Archiv

«Gianluca Frontino wird eines Tages einen Grossclub trainieren»

Nach seiner persönlichen Dernière gegen die SR Delémont schloss Neitzke sein Kapitel als Aktiver ab und liebäugelt nun mit einer Laufbahn als Trainer. Er ist bereits im Besitz des UEFA-B-Diploms und seit Sommer im Staff von Gianluca Frontino bei der U19 des FC St. Gallen 1879. Neitzke schwärmt vom jungen Cheftrainer und ist überzeugt: «Er wird eines Tages einen Grossverein übernehmen.» Er schätzt Frontinos Humor, seinen Stil, das Vertrauen, das er den Spielern schenkt, aber auch dessen klare Linie auf dem Platz. Angebote von buhlenden Amateurclubs aus der St. Galler Region schlug Neitzke aus. Er wolle lieber Talente formen als unterklassig spielen – auch wenn der Fussball seine Passion bleibt. Bei der U19 begleitet er junge Spieler, beobachtet, lernt, saugt auf. «Ich entwickle mich auch mit 38 noch täglich weiter.» Der Weg zum UEFA-A-Diplom ist in den kommenden Jahren sein nächstes Ziel.

Lebenstraum hierzulande erfüllt

Japan und Schaffhausen – diese beiden Epochen bezeichnet er als die wichtigsten seiner Karriere. Es waren nicht einzelne Spiele, sondern die Erfahrungen, die ihn und seine Familie geprägt haben. Den Tiefpunkt sieht er in der Abstiegssaison bei Xamax. Umso mehr bleibt in Erinnerung, was wirklich zählt: die Menschen, denen er bislang begegnet ist. «Ich habe überall Freundschaften geschlossen, das ist für mich das Wichtigste.» Seine Frau Camilla stand immer hinter ihm. Ohne sie, sagt er, hätte er vieles nicht geschafft. In der Schweiz haben er und seine Familie ihre Heimat gefunden – dank Jacobacci und den Cedrola-Brüdern, die diesen Werdegang erst möglich machten. Auch wenn er heute in einem Aussenquartier von St. Gallen wohnt, so ist sein Herz in Schaffhausen daheim. Wenn der FCS ihn brauche, sei er jederzeit bereit zurückzukehren. Es war der Abschluss einer Laufbahn, die in Brasilien begann und ihn über Japan nach Schaffhausen und später in die Olmastadt führte. «Ich würde alles wieder genau gleich machen», beteuert er – weil er sich gemeinsam mit seiner Frau Camilla einen Lebenstraum erfüllt hat, der vor elf Jahren noch völlig undenkbar schien.

Ronny Bien, Schaffhausen24/Kreuzlingen24