Am 24. Mai ging für André Luis Neitzke ein Kapitel zu Ende. Der 38-Jährige, langjähriger Capitano des FC Schaffhausen (171 Pflichtspiele), hat seine Aktivkarriere beim SC Brühl St. Gallen beendet. Vor elf Jahren schlug er in Schaffhausen seine Zelte auf und hinterliess in der Munotstadt einen bleibenden Eindruck.
Japan-Abenteuer prägt Neitzke
Geboren wurde Neitzke 1986 im brasilianischen Bundesstaat Paraná, als Nachfahre italienischer Einwanderer. Seine ersten Schritte machte er bei «Sociedade Esportiva e Recreativa Caxias do Sul». Mit 19 zog es ihn nach Japan zum J1-League-Club «Cerezo Osaka», doch bereits nach einem halben Jahr wurde er bis Ende 2008 an «Tokushima Vortis» ausgeliehen. Die kulturellen Unterschiede waren gewaltig, doch er fühlte sich wohl. «Ich habe früh meine innere Ruhe gefunden», sagt er über diese prägende Zeit. Die japanische Disziplin, der Respekt gegenüber dem Alter, selbst das Essen – all das faszinierte ihn. In Tokushima lernte er den späteren Weltstar Seydou Doumbia kennen. Die beiden wohnten im selben Block, kochten füreinander, wurden Freunde fürs Leben. «Ich hoffe, dass ich Seydou bald wieder sehe.» Drei Jahre dauerte das Abenteuer in Fernost, danach kehrte Neitzke nach Paraná zurück. Voller Hoffnung auf einen Toptransfer – doch es kam anders. Statt gut dotierter Verträge bei Topclubs gab es schlecht bezahlte Notlösungen. Mehrere Vereine hielten ihre Versprechen nicht, oft blieben die Löhne aus. Neitzkes Zukunft im Fussball hing an einem seidenen Faden.
Karriereende schon fast besiegelt
Zurück in seiner alten Heimat spielte der Blondschopf bei Toledo EC eine starke Saison, auch wenn der Verein schliesslich abstieg. Neitzke war 27, sein Glaube an die Karriere bröckelte zusehends. «Ich wollte meiner Frau den Freiraum geben, ihren Weg zu gehen.» Doch Camilla – auch heute sein Fels in der Brandung – ermutigte ihn, ein Bewerbungsvideo in den sozialen Medien zu posten. Damit kontaktierte er auch die Gebrüder Michele und Renato Cedrola aus St. Gallen, die das Material an den damaligen FC-Schaffhausen-Coach und Sportchef Maurizio Jacobacci weiterleiteten. Tatsächlich erfolgte kurze Zeit später ein Aufgebot zum Probetraining in der Munotstadt. Um die Reise zu finanzieren, musste Neitzke sogar sein Auto verkaufen. Doch der Einsatz lohnte sich: Kaum zurück in Brasilien, folgte der ersehnte Anruf mit dem Vertragsangebot über zwei Jahre beim FCS. Schaffhausen war für ihn schon fast wie eine Neugeburt. Die Stadt sei übersichtlich, familiär, entschleunigend. «Ich bekam wieder Freude am Fussball», sagt er. Mit Paulinho, João Vilela, Toni Dos Santos und vielen weiteren Weggefährten entwickelte er enge Freundschaften. Schaffhausen wurde für die Familie zum neuen Zuhause – ein Ort, an dem sie sich für immer niederlassen wollten.
Als der FC Sion 2017 anrief, war Neitzke gerade dabei, einen neuen Dreijahresvertrag beim FCS zu unterzeichnen. Der Wechsel ins Wallis warf alles über den Haufen – und mit einem zwei Wochen alten Säugling war es eine gewagte Mutprobe. In Sion lief nicht alles nach Plan. Gleich beim ersten Spiel wurde er von Trainer Gabri aus dem Kader verbannt. Erst in der Rückrunde durfte er zurückkehren, unter Jacobacci, der zuvor die U21 betreut und nach Gabris Entlassung das Fanionteam übernommen hatte. 2019 wechselte er nach Neuchâtel zu Xamax. Der familiäre Club war ihm sofort sympathisch, doch sportlich verlief die Zeit enttäuschend. Der Abstieg in die Challenge League wurde für ihn zum mentalen Tiefpunkt seiner Laufbahn. «Ich hätte lieber damals schon nach Schaffhausen zurückkehren sollen, als Murat Yakin sich nach mir erkundigte», sagt er rückblickend. Doch als Yakin ein Jahr später erneut anrief, liess sich Neitzke nicht mehr zweimal bitten. «Zu 200 Prozent kannst du auf mich zählen», war seine Antwort. Er löste seinen Vertrag in Neuchâtel auf, packte seine Sachen und kehrte mit seiner Familie zurück in die Nordostschweiz.
Assistenztrainer oder erneuter Wechsel?
Zurück beim FCS, trug er erneut die Captainbinde. Doch das war ihm nie das Wichtigste. «Jeder muss ein bisschen Capitano sein», sagt er. Als Führungsspieler agierte er leise, aber präsent. Er war Ansprechpartner für die Jungen, Vorbild im Training und übernahm Verantwortung, auch bei Fehlern. «Nach einem 0:3 gegen Xamax konnte ich nicht schlafen, weil ich zwei Gegentore verschuldete.»
Obschon André Luis Neitzke plante, seine Karriere beim FC Schaffhausen ausklingen zu lassen, sah er sich weiterhin in der Lage, mit seinen Leistungen einen Beitrag zu leisten. «Der Plan beim FCS war eigentlich, dass ich fortlaufend in die Abläufe als Assistenztrainer eingebunden werde. Doch zugleich war ich mit der Hauptrolle auf der Ersatzbank nicht glücklich.» Wieder war es ein Anruf, der alles veränderte. Denis Sonderegger, Trainer des SC Brühl, machte ihm ein Angebot – samt Arbeitsstelle. Neitzke wägte ab und sagte zu, weil er sich mehr Einsatzzeit versprach. Drei Jahre lang spielte er in der Promotion League, arbeitete tagsüber im Vollzeitpensum, trainierte abends. «Man spürt den Unterschied. Als semiprofessioneller Fussballer fehlt dir nach einem harten Arbeitstag manchmal einfach die nötige Energie.» Während dieser Zeit war er in Wittenbach SG als Magaziner tätig, heute arbeitet er für eine Transportfirma in Wil SG.