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12.12.2024
08.12.2024 22:27 Uhr

Wenn aus Winter Wärme wird - Teil 12

Wenn aus Winter Wärme wird – ein Winterroman mit viel Liebe, Spannung und Drama.
Mit ihrem Winterroman ,,Wenn aus Winter Wärme wird " nimmt die Autorin Astrid Töpfner die Leser mit auf eine spannende Reise in die schneebedeckten Schweizer Berge. Tauchen Sie ein in die Winterstimmung mit viel Gefühl und Drama – mit dem Kreuzlingen24-Adventskalender.

15. Dezember

Tania

Die kalte Luft traf sie wie ein Fausthieb ins Gesicht, als sie aus der Beiz ins Freie traten, und raubte ihr für einen Augenblick den Atem. Emma hüpfte auf der Stelle auf und ab. Tania wurde allein beim Zuschauen schwindlig, dieser verdammte Kirschenlikör hatte es wirklich in sich! Wie viele Gläser, okay, Gläschen, aber dennoch, hatte sie davon gehabt? Drei? Vier? Sie vertrug doch nichts und musste bei der Vorstellung kichern, dass sie jetzt eine halbe Stunde bergauf und über schneebedeckte Straßen durch die Dunkelheit wanken musste, um zum Hotel zu gelangen. Eine Seilbahn wäre jetzt nicht schlecht, direkt von hier nach dort, und auch den Gedanken fand sie viel zu lustig dafür, dass er total bescheuert war.

»Kommt gut hoch und bis morgen«, rief Gion ihnen nach und schloss die Tür, sperrte das Licht und die Wärme ein und sie aus. Ein netter Typ, dieser Gion, bisschen aufdringlich, sich einfach so zu ihnen zu setzen, aber vielleicht war das hier so in den Bergen oder zumindest in diesem Kaff – wenn schon mal jemand hereinschneite, noch dazu Fremde, musste die Gelegenheit ausgenutzt werden, bevor man noch anfing, vor lauter Langweile mit dem Geweih an der Wand zu kommunizieren. Nein, nicht lachen! Auch wenn sie seine Erzählungen null interessiert hatten, hatte sie ihre ganze Konzentration auf ihn gerichtet, um sich davon abzuhalten, Florian verhohlen zu mustern, seine warmen braunen Augen, das Grübchen in der Wange, das sich zeigte, wenn er seine Freundin anlächelte, und spätestens bei dem Gedanken – seine Freundin! – war sie wieder froh um Gions Gelaber und das nächste Gläschen Likör gewesen. Aus irgendeiner Lüftung drang Essensduft und Tanias Magen knurrte wie ein Bär, der aus dem Winterschlaf geweckt wurde.

»Ich hab so Hunger«, sprach Emma aus, was Tania dachte, und hauchte in ihre Hände, rieb sie aneinander, hauchte wieder. Florian zog sie an sich, so, dass sie die Hände in seine Jackentasche stecken konnte, und murmelte etwas, das sehr anzüglich klang, etwas wie später kannst du mich aufessen oder so, und Emma lachte und küsste ihn dann lang, als wollte sie hier und jetzt mit dem Essen beginnen.

Tania zog ihr Handy aus der Tasche, um dem Geknutsche zu entgehen, es war kurz vor sechs und es gab keinen Empfang, natürlich nicht. Simon strahlte ihr vom Display entgegen, groß, kräftig, verliebt. In sie. Als sie ihn im Supermarkt gesehen hatte, hatte er abgehetzt gewirkt, ungesund mit den tiefen Augenringen. Und dann war er einfach abgehauen. War er es wirklich gewesen? Plötzlich war sie gar nicht mehr sicher. Das Display wurde schwarz; sie steckte das Telefon mit einem lautlosen Seufzer zurück in die Tasche und holte dafür ihre Handschuhe raus.

»Ich friiiiiiere!«, rief sie dem eng umschlungenen Paar zu. Emma stand mit dem Rücken zu ihr, aber Florian hob den Kopf, und wie jedes Mal, wenn sich ihre Blicke begegneten, bekundete Tania Mühe, ihr pochendes Herz zu beruhigen. Wie lächerlich! Florian war so anders als Simon, schlaksig, fast dünn, blond, ein Jüngelchen eigentlich, kaum älter als sie. Und vor allem war er mit Emma zusammen, der wahrscheinlich schönsten Frau, die Tania kannte. Was auf der anderen Seite völlig egal war, denn sie wollte ja nichts von ihm, richtig? Aber als er sagte: »Dann wollen wir mal«, rann seine Stimme durch sie hindurch wie vorhin der süße, vollmundige, schwere, klebrige Likör und hinterließ mitten im Winter Kirschengeschmack in ihrem Brustkorb. Demonstrativ übersah sie seine ausgestreckte Hand und hakte sich stattdessen auf der anderen Seite bei Emma unter.

Gott, war das kalt! Tania zog sich die Mütze bis zu den Augenbrauen runter und den Schal über die Nase, aber dann bekam sie keine Luft mehr und schob ihn wieder nach unten. Als wären es Seifenblasen, versuchte Tania ihre Atemwölkchen zu erhaschen, bevor sie von dem leichten Wind, der aufgekommen war, verteilt wurden. Am Himmel stand eine ganz schmale Sichel; sie brauchte ein paar Sekunden, um in ihrem beschwipsten Kopf zu sortieren, ob der Mond abnehmend oder zunehmend war, und entschied sich für Letzteres. Er war kaum groß genug, um für Helligkeit zu sorgen, noch dazu legten sich immer wieder Schleierwolken darüber, aber dennoch leuchtete die umliegende Landschaft wie in Milch gebadet.

»Eine Kleopatra aus Bergen«, sprach Tania ihren Gedanken laut aus und Florian lachte prustend.

»Eine wie bitte was?«

»Na Kleopatra«, sprang Emma für sie in die Bresche, klar, die Geschichtsstudentin, aber weiter kamen sie nicht, denn in dem Moment durchbrach ein lautes Rattern die Stille. Am Ende des Dorfes, dort, wo sie noch etwa hundert Meter geradeaus gehen mussten, bevor es nach links den Berg hochging, bog ein Schneepflug mit orange blinkendem Licht auf dem Dach aus einer Einfahrt; es war mehr ein Traktor mit einer gar nicht so breiten orangen Schaufel vornedran, was kein Wunder war bei den engen Straßen. Tania zog an Emmas Arm, um nach rechts auszuweichen, spürte gleichzeitig, wie Florian nach links zog, also zog sie wieder nach rechts, während Emma in der Mitte, bei der sie beide untergehakt waren, wahrscheinlich nicht wusste, wohin, links, rechts, links, und protestierend beide Arme losließ. Glucksend stolperte Tania und plumpste auf den Boden, ihre Augen tränten, von der Kälte, von dem kurzen Schmerz, der durch ihr Steißbein fuhr, dann wurde sie hoch und zur Seite gerissen und erschrak, aber als sie durch den Tränenfilm verschwommen das wütende Gesicht der Fahrerin sah, musste sie wieder giggeln, sie wusste gar nicht wieso. Musste der Alkohol sein, aber ah, es tat so gut, zu lachen, also lachte sie, wand sich aus Flos Griff, ließ sich in den Schneehaufen am Straßenrand fallen und lachte und lachte und rang japsend nach Luft.

»Aufpassen … verdammt noch mal … Unterländer!«, hörte sie die Frau fluchen, während sie weitertuckerte, dann hörte sie auch Emma kichern und Florian irgendwas murmeln, »Weiber«, oder so was, und sie wusste nicht, ob er damit die Schreckschraube im Schneepflug meinte oder Emma und sie. Aber zur Verteidigung aller weiblicher Wesen formte sie einen Schneeball und warf ihn in seine Richtung. Sie traf ihn nur am Arm. Das Nächste, was sie mitbekam, war eine Ladung Schnee mitten ins Gesicht, und während sie sich noch verdutzt die Kälte von den Wangen wischte, quietschte Emma in den höchsten Tönen. Tania sprang auf, auf einmal ganz klar im Kopf, rannte zu Florian, der gerade dabei war, einen weiteren Ball zu formen, rammte ihn und sie flogen beide in die weiche Schneedecke, er unter ihr, sie auf ihm; der Moment dauerte nichts, zwei, drei Sekunden, aber selbst in dieser vom Sichelmond kaum erleuchteten Dunkelheit fanden sich ihre Blicke und noch etwas anderes, etwas, das Tania resolut von sich weisen wollte, denn er war Florian und nicht Simon, aber ihr Herz war anderer Meinung und kitzelte und prickelte, als ob das Blut nach langer Eiszeit endlich wieder fließen würde. Dann traf sie ein Schneeball am Hinterkopf und sie rollte von ihm runter, formte selbst einen und bewarf Emma damit, und am Ende wälzten sie sich alle drei lachend und jauchzend im Schnee, als wären sie zehn und nicht Mitte zwanzig, machten Schneeengel und Purzelbäume, bis sie aussahen wie Yetis.

Tania fühlte sich wie benommen und wusste nicht, ob es von der Kälte kam, die von ihren feuchten Füßen Besitz ergriff, oder von der Hitze, die den Schnee auf ihrem Gesicht schmelzen ließ, oder doch von diesem Glücksgefühl, das sie auflud wie ein atomares Teilchen kurz vor der Kernspaltung. Es verwirrte sie, dieses Glücksgefühl, weil es viel zu lange her war, dass sie etwas Ähnliches überhaupt gespürt hatte, und sie merkte erst jetzt, dass sie es vermisst hatte. Florian lief eng umschlungen mit Emma vorweg und sie keuchte hinterher; er ruderte in seiner Freizeit, hatte er in der Beiz erzählt, und seine Freundin war ja sowieso eine Sportskanone, während sie selbst seit einem Jahr keinen Muskel zu viel bewegt, sondern sich nur in ihrem Selbstmitleid gesuhlt hatte. Dieser letzte Gedanke erschreckte sie, als wäre sie eben auf einer eisigen Stelle ausgerutscht. Nein, kein Selbstmitleid. Gerechtfertigte Wut. Oder?

Der Aufstieg wollte kein Ende nehmen, und sie könnte schwören, dass der Wind, der ihr von vorn ins Gesicht blies, mit kleinen Rasiermessern bestückt war. Ganz weit unten im Tal, unten beim Fluss, erkannte Tania die Lichter einiger Dörfer, und das sah aus, als wären die Sterne vom mittlerweile komplett bedeckten Nachthimmel herunter auf die Erde gefallen, damit sie sie dennoch sehen konnte. Sie merkte, wie sie trotz der Anstrengung lächelte. Als sie dann endlich auf dem Plateau ankam, musste sie sich mit den Händen auf den zitternden Knien abstützen, um zu Atem zu gelangen. Wie besinnlich das Chalet aussah mit den Lichtern, die sich der Dachkante entlangspannten und in der Dunkelheit weichgolden schimmerten!

»Wartet«, rief sie dem Pärchen vor ihr zu, das sich bereits vor dem Eingang gegenseitig den Schnee von Schultern und Rücken bürstete. »Wartet auf mich, ihr elenden Rennpferde.« Trotz der Kälte riss sie sich die Wollmütze vom Kopf, oh, wie herrlich, was hatte das Ding gekratzt in den letzten fünfzehn Minuten! Im Bommel hingen Eisstücke. Dann klopfte ihr auch schon Florian den Rücken sauber, und aus dem Augenwinkel konnte Tania erkennen, wie Emma gar nicht erfreut aussah, aber sofort grinste, als sich ihre Blicke begegneten.

»Ist schon gut«, murmelte Tania und duckte sich unter Flos Händen weg, trampelte den Schnee von den Schuhen und aus den Sohlen und dieses verwirrend flaue Gefühl aus ihrer Magengegend. Hunger. Sie hatte einfach Hunger. Und es roch auch schon gut, als sie die Tür öffnete, richtig gut sogar. Abendessen um sieben, hatte Chasper gemeint, also in einer halben Stunde, noch genug Zeit für eine rasche heiße Dusche. Sie marschierte am Kaminzimmer vorbei, in dem der lange Esstisch bereits hübsch gedeckt war, und entdeckte ihre Mutter im Sessel neben dem Feuer, zusammen mit einer der beiden Frauen, deren Auto sie beinahe um die letzte Kurve hätten schieben müssen, so wie es gekeucht hatte. Natürlich musste sie in dem Moment den Kopf heben, und Tania war sicher, Missbilligung in ihrem Gesicht lesen zu können. Missfallen, weil sie ihr ansah, dass sie Spaß gehabt hatte, während sie hier in diesem komischen Chalet herumgesessen hatte. Und war es nicht immer so gewesen? Weil sie es ihrer eigenen Tochter nicht gönnte, glücklich zu sein, weil sie selbst kein Glück in der Liebe gehabt hatte. Dabei hätte sie sich doch jederzeit einen neuen Mann suchen können.

Dann hob ihre Mutter zaghaft die Hand und winkte, und Tania realisierte, dass sie seit wahrscheinlich einer halben Minute reglos in der Tür gestanden und sie angestarrt hatte. Und sie realisierte ebenso, dass der Groll, den sie gerade noch verspürt hatte, den sie verspüren wollte, weil ihre Mutter sie wirklich, wirklich verletzt hatte, dass dieser Groll im Begriff war, zu schmelzen, so wie das Eis im Bommel ihrer Mütze sich in der Wärme, die hier drinnen herrschte, auflöste.

Sie wusste nur noch nicht, ob sie daran festhalten wollte.

Wenn aus Winter Wärme wird

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Astrid Töpfner

Astrid Töpfner wurde 1978 in der Schweiz geboren und wohnt sie seit 2005 mit ihrem Mann und den zwei Söhnen in Spanien. In ihren Geschichten spielen oft Familien und deren tief verwurzelte Konflikte eine grosse Rolle; wie unterschiedlich Personen mit Themen wie Liebe, Verlust, Eifersucht oder Schuldgefühlen umgehen. Es sind keine klassischen Liebesromane, aber dennoch spielt die Liebe immer mit - denn ganz ehrlich: Was wären wir schon ohne?

www.astrid-topfner.com / www.instagram.com/astrid_topfner

Astrid Töpfner