15. Dezember
Kati
In der Stunde, die die Sauna brauchte, um aufzuheizen, hatten sie sich ihr Zimmer angeschaut, ausgepackt, sich aufs Bett geschmissen, gemerkt, dass es keinen Fernseher und kaum Internetempfang gab, wobei Ersteres Kati ziemlich egal war und Letzteres sie kurz stresste, weil sie doch extra den Laptop mitgenommen hatte, um an einem Coverentwurf weiterzuarbeiten. Sie hätte sich auch über ein Jacuzzi gefreut, aber die Möglichkeiten beschränkten sich auf die Sauna und Schneeschuhe, die Chasper zur Verfügung stellte, um spazieren zu gehen. Ansonsten: Ruhe, innen wie außen. Aber Martha schien die geringe Auswahl an Aktivitäten zum Anlass zu nehmen, noch mehr zu reden als sonst, als hätte sie Nachholbedürfnis dadurch, dass sie sich in den letzten Wochen und Monaten eher selten gesehen hatten. Ihnen ging sonst nie der Gesprächsstoff aus, aber hier, fand Kati, kam ihr Plappern beinahe einem Sakrileg gleich, und sie war froh, als die Sauna bereit war. Denn man schwitzte schweigend, so lautete die Regel.
Das Häuschen, in dem die Sauna untergebracht war, lag etwas abseits, schon fast unter den hohen Tannen. Die Tür öffnete zum Wald hin, im Vorraum befanden sich eine kleine Garderobe, fünf gemütliche Liegen, ein Tischchen mit Wasserkaraffe und Gläsern, sowie die Dusche. Es roch nach Holz und Kräuteraufguss.
»Kann man sich denn auch direkt im Schnee abkühlen?«, fragte Kati Chasper, der in seiner Erklärung innehielt und sie verdutzt anstarrte. Aus dem Augenwinkel sah Kati, wie Martha sich ein Grinsen zu verkneifen versuchte.
»Also, nackt, meinen Sie? Nach dem Saunagang?« Chasper blinzelte, als versuchte er, ein Bild vor seinem inneren Auge zu vertreiben, dann räusperte er sich. »Das ist Ihnen überlassen. Wenn es Sie nicht stört, dass die Tiere …« Er wies mit einer vagen Handbewegung nach draußen. »Oder die anderen Gäste oder der Förster … Es steht Ihnen selbstverständlich frei. Aber die, die Dusche, die erfrischt auch ganz gut.«
»Dann bleiben wir bei der Dusche«, sagte Martha und stupste Kati in die Seite, als wollte sie sie ermahnen, den armen Mann nicht weiter in Verlegenheit zu bringen. Er sah wirklich zum Anbeißen aus und trug auch keinen Ring, was natürlich gar nichts heißen musste, und dann stupste sich Kati in Gedanken selbst in die Seite, um sich zu ermahnen, nämlich dass sie mit ihrer besten Freundin hier war und nicht, um zu flirten.
Aber es war so schwierig, nicht Chaspers Nähe zu suchen, merkte sie, als sie eine knappe Stunde später schlapp von der Hitze und mit gleichzeitig von der letzten eiskalten Dusche noch prickelndem Körper auf der südlich ausgerichteten Terrasse saß, mit Jacke und Mütze ausgestattet und in eine kuschelige Decke gewickelt. Sie konnte es sich nicht wirklich erklären, was genau sie so anzog, aber sie merkte, wie sie sich entspannte und alles in ihr drinnen ruhig wurde, war er auch nur in Sichtweite.
Als er ihnen die beiden Tassen mit Glühwein gebracht hatte, hatte sie sich noch so unverbunden wie möglich bedankt, aber jetzt konnte sie sich einfach nicht davon abhalten, Chasper jedes Mal, wenn er die Terrasse betrat, mit ihren Blicken zu verfolgen. Gerade unterhielt er sich mit dieser immer so müde aussehenden Dame, die Probleme mit ihrer Tochter hatte und sich nun das Buch, das sie las, als Sonnenschutz vor die Augen hielt, während sie zu ihm hochsah. Sie hatte sich ihnen nur kurz als Rebekka vorgestellt. Er schien ihr irgendetwas Amüsantes zu erklären. Sein Lächeln, merkte Kati, franste an den Enden aus wie ein nicht zu Ende gewebter Teppich, und …
»Erde an Kati!« Martha hielt ihr mit leicht missmutiger Miene die Tasse entgegen. »Auf uns.«
Kati riss sich von diesem unvollständigen und melancholischen Lächeln los und prostete zurück. »Danke für dieses Geschenk. Es ist wunderbar hier.«
Martha murmelte etwas in ihren Glühwein hinein, das Kati nicht verstand und wahrscheinlich nicht verstehen sollte, aber bevor sie nachfragen konnte, hörte sie Chasper rufen: »Dort ist er!«, und sie folgte seinem Finger hinauf in den Himmel. Ein mächtiger Greifvogel zog seine Kreise direkt über ihren Köpfen, ein Steinadler, wenn sie seinen Worten Glauben schenkte, der dem Panorama diesen letzten perfekten Stempel aufdrückte. Dann berührte die Sonne den Bergrücken auf der anderen Seite des Tals und schien damit zu verschmelzen; während der Vogel einen schrillen Schrei ausstieß und aus ihrer Sicht verschwand, konnte Kati direkt zusehen, wie die goldene Kugel sank, letzte Strahlen aussandte wie einen Hilferuf und damit die Schleierwolken anleuchtete, sodass sie aussahen wie eine vom Wind bewegte irisierende Wasseroberfläche.
Kaum war die Sonne untergegangen, wurde es bissig kalt und die unangenehme Brise frischte auf. Rebekka klappte ihr Buch zu, legte die Decke zusammen und platzierte sie auf der Bank, nahm ihre Tasse und verabschiedete sich nach drinnen.
»Sieht man ja plötzlich nichts mehr«, sagte Martha und zog die Sonnenbrille aus. Kati tat es ihr gleich, bestaunte die Winterlandschaft um sich herum nun ohne Filter und lauschte. Sie konnte sich nicht satthören an der Ruhe. Es war ihr, als könnte sie den Atem der Natur verfolgen, als würde sie die Eiszapfen singen und die Eichhörnchen miteinander kommunizieren hören. Oder hielten Eichhörnchen Winterschlaf? Sofort holte sie ihr Telefon aus der Tasche und gab die Frage bei Google ein, aber kaum Suchen gedrückt, gab der Empfang auch schon wieder den Geist auf. Als sie das Handy auf die Bank neben sich legte, bemerkte sie, dass auch Martha im Gegensatz zu vor ihrem Saunagang ziemlich ruhig geworden war. Ein nervöses Prickeln fuhr durch ihre Magengrube und ganz spontan legte sie den Arm um sie.
»Meine Beste«, murmelte Kati und drückte ihre Freundin, was bei Martha ein Lächeln hervorrief, als hätte die Umarmung es eingeschaltet. Aber es erlosch auch so schnell, wie es gekommen war, als Chasper die Terrasse betrat.
»Wird nicht langsam kalt?« Er nahm die Decke, die Rebekka zusammengefaltet hatte, schüttelte sie aus und legte sie genauso perfekt zusammen, wie sie eben schon gewesen war. Dann blickte er mit einem sorgenvollen Ausdruck im Gesicht in den Abendhimmel, und Kati erwischte sich dabei, wie sie in Gedanken die kleine Falte zwischen seinen Augenbrauen glattstrich. Als hätte er die Berührung gespürt, sah er sie direkt an und ihr Herz machte einen kleinen Sprung.
»Kommt vielleicht Schnee«, sagte er, und Kati freute sich jetzt schon darauf, am nächsten Morgen die Fensterläden zu öffnen und in der Morgensonne glitzernden, federleichten Neuschnee vorzufinden. Aber Chasper sah weiterhin nicht glücklich aus.
»Nicht gut?«, fragte Kati und berührte koketter als vorgehabt ihre Haare. Martha neben ihr schlürfte laut einen Schluck Glühwein, der ganz bestimmt nicht mehr heiß war.
»Je nachdem«, antwortete Chasper einsilbig, machte einen Schritt in Richtung Terrassentür und blieb doch wieder stehen. »Ich … ich werde gleich den Futterstand hinten auffüllen, vielleicht …«
»Ja!«, rief Kati. »Ich komme gern mit.«
Martha stellte mit Nachdruck die Tasse auf den Tisch.
»Wir, wir beide kommen gern mit«, korrigierte sich Kati und strahlte ihre Freundin an. Die strahlte nicht zurück.
»Was ist denn los mit dir?«, fragte Kati so unschuldig wie möglich, als Chasper im Inneren verschwunden war.
»Das weißt du sehr wohl.«
Kati fiel es auf einmal schwer, das würzige Getränk zu schlucken, und die Säure des Weins kroch ihr wieder den Hals hoch. Es gab mehrere Antworten auf diese Feststellung.
Martha sackte ein wenig in sich zusammen und sah Kati schmollend an. »Seit du diesen Typen auf dem Radar hast, scheine ich gar nicht mehr zu existieren. Du ziehst ihn mit deinen Blicken aus, und obwohl ich das von dir kenne, verletzt es mich, weißt du? Seit Wochen, nein, seit dem Sommer schon ziehst du dich komplett von mir zurück, und jetzt, wo ich dir dieses Geschenk mache und denke, wir können gemeinsam was unternehmen, und sei es nur durch den Schnee latschen und blödeln und reden, da lachst du dir den erstbesten Mann an.« Sie zog die Decke hoch und verschränkte die Arme vor der Brust. »Du bist keine gute Freundin in letzter Zeit«, schickte sie leise noch hinterher, und das traf Kati mehr als die restliche Tirade.
»Ich …«, sagte sie hilflos und wusste nicht weiter. Wenn Martha wüsste, wie recht sie hatte! »Es war keine Absicht, ich hatte einfach wirklich viel zu tun«, log sie und spielte mit ihrer Sonnenbrille, die vor ihr auf dem Tisch lag. »Und Chasper, du hast ja selbst gesagt, dass er gut aussieht, und … Es tut mir leid. Gehen wir gemeinsam Rehe schauen?«
Martha sah sie an, als hätte sie etwas Falsches gesagt. Und natürlich hatte sie das. Sie wollte etwas mit ihr machen, bei dem Chasper nicht als Ablenkung fungieren konnte.
»Schneespaziergang?« Es war mittlerweile dunkel und sie fror.
»Lass gut sein«, sagte Martha. »Mir ist kalt. Ich geh heiß duschen und du … geh Tiere beobachten. Ist nicht so mein Ding.« Es klang gleichzeitig enttäuscht als auch gönnerisch, und Kati wusste nicht, ob Martha nun erwartete, dass sie sie aufs Zimmer begleitete, oder ob es wirklich in Ordnung war, wenn sie eine halbe Stunde getrennte Wege gingen. Früher hätte sie das erspürt. Nein, das war gelogen. Sie spürte es auch jetzt. Beste Freundinnen seit dreißig Jahren. Aber Freundschaften veränderten sich, und ihre hatte, das wurde Kati eben bewusst, eine Abzweigung genommen, auf deren Weg nicht mehr beide nebeneinander Platz hatten. Nachdem sie diesen Gedanken kurz hatte sacken lassen, konnte sie freier atmen.
Als Martha hineinging, ließ sie die Decke zusammengeknüllt auf der Bank liegen und ihre leere Glühweintasse auf dem Tisch stehen. Kati legte die Decke genauso akkurat zusammen, wie Chasper es eben mit Rebekkas getan hatte, nahm beide Tassen und stellte diese auf die Anrichte neben den Samowar, aus dem man sich jederzeit heißen Früchte-Zimt-Tee einschenken konnte. Und nun? Nach oben gehen? Sich ins Bett legen, lesen, auf die Gefahr hin, sich von Martha in ein Gespräch verwickeln zu lassen, das in eine Richtung ging, die Kati nicht einschlagen wollte? Nein, dachte sie, bekräftigt von dem guten Gefühl, das sie vorhin empfunden hatte. Sie mussten nicht jede freie Minute aneinanderkleben. Und sie schritt an der Treppe vorbei zum Hinterausgang, in der Hoffnung, Chasper vor der Tür vorzufinden.
Sie hörte ihn in dem kleinen Anbau rumoren und lugte vorsichtig hinein. An einer Wand hingen die Schneeschuhe, Schneeschaufeln lehnten dagegen, ein bisschen Gerümpel, einer der Terrassentische mit einem Sprung in der Holzoberfläche, Sonnenschirme, eine Hobelbank, die anscheinend auch in Gebrauch war, denn daneben stand ein Eimer voller Späne. Im fahlen Licht der nackten Glühbirne sah sie auch einen alten Davoser Schlitten und mehrere Ballen Heu, von denen Chasper gerade den obersten herunterzog.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Kati.
Chasper geriet aus der Balance, als er sich, beflügelt vom Gewicht des Ballens, zu rasch umdrehte. Sie sprang zwei Schritte nach vorn, um den erstaunlich schweren Packen aufzufangen, und so standen sie dann gegenüber, duftendes trockenes Gras zwischen ihnen, Staub in der Luft, der Kati in der Nase kitzelte.
»Tut mir leid, ich …« Sie drehte den Kopf und nieste, einmal, zweimal. »Ich wollte dir zur Hand gehen. Ihnen, Entschuldigung.«
Chasper blickte auf den Ballen, zur Tür, in ihr Gesicht, lächelte amüsiert. »Das üben wir noch. Du kannst jetzt loslassen.«
Auch wenn sie Gast und Gastgeber waren, fühlte sich das Du natürlicher an, und so korrigierte sie ihn nicht. Das Lächeln verstärkte die feinen Fältchen um seine Augen, als wären es Sonnenstrahlen, und Kati wollte schlucken und konnte nicht. Zu viel Staub in der Luft. Zu viel sparkle, sparkle, wie Martha es genannt hatte.
»Kati?« Er verstärkte den Griff und trat einen kleinen Schritt zurück; im letzten Moment konnte sie sich fangen, bevor sie, ohne das Gewicht zwischen ihnen, nach vorn taumelte.
Sie lachte leise und befühlte unwillkürlich ihre Haare, als müsste sie sichergehen, dass alles an Ort und Stelle saß, Hilfe, so eitel war sie doch sonst nicht. Aber sonst blieben ihr auch nicht die Worte im Hals stecken und raste ihr Puls nicht so. Mit einer huldvollen Bewegung versuchte sie, ihre momentane Unsicherheit durch Komik wettzumachen, und folgte Chasper nach draußen. Dort warf sie einen Blick über die Schulter nach oben, aber zum Glück wies ihr Zimmer in die andere Richtung.
»Gibt es noch ein zweites Stockwerk?«, fragte sie, sammelte ein paar Heuhalme auf, die in den Schnee gefallen waren, und deutete damit auf das Fenster direkt unter dem Giebel.
»Dort wohne ich.«
Kati nickte, ohne dass Chasper es sehen könnte. Natürlich. Was hatte sie gedacht, dass er jeden Abend auf Schneeschuhen ins Dorf hinunterspazierte und seine Gäste allein ließ? In dem Moment, in dem sie sich umdrehen wollte, schaltete sich die Lichterkette ein, die sich der Traufe entlang um das ganze Chalet zog, und hüllte die Dunkelheit in ein samtig weiches Licht. Irgendwo in den Wipfeln der Tannen sang ein Vogel die letzte Strophe seines Abendliedes und rechts neben ihr raschelte etwas im Unterholz; ein Hase vielleicht, oder ein Fuchs? Ganz leise ging sie weiter, der Schnee knirschte dennoch unter ihren Schuhen. Sie liebte jede Note dieses Geräusches.
»Halten Eichhörnchen Winterschlaf?«, fragte sie Chasper, als sie beim Futterstand ankam.
Er hatte bereits die Schnüre des Ballens durchgeschnitten und bedeutete ihr nun mit einem Nicken, das Heu in das Dreieck zu stopfen, das den oberen Teil der im Querschnitt wie ein X geformten Krippe ausmachte.
»Die Rehe zupfen das Futter durch die Gitterstäbe, die stehen eng aneinander, damit sie nicht zu viel aufs Mal erwischen«, erklärte er ihr leise. Sein Atem schien in der Luft zu gefrieren. »Und nein, Eichhörnchen halten keinen Winterschlaf, sondern eine Winterruhe. Heißt, sie sind ein paar Stunden täglich wach. Deswegen legen sie im Herbst auch Vorräte an, von denen sie sich in der kalten Jahreszeit ernähren.«
Natürlich, da war doch was gewesen. Eichhörnchen verbuddelten Samen und Zeugs. Wie hatte sie das vergessen können!
»Schau, hier.« Chasper winkte sie zu sich und zeigte auf den Boden etwas abseits des Futterplatzes. Kleine Abdrücke führten von einem Baum weg hinein in den Wald. »Das war eines der kleinen Kerlchen. Und das hier«, er zeigte auf eine größere Spur, »war ein Reh. Vielleicht haben wir Glück.«
Er sprach mit einer fast andächtigen Hingabe, fand Kati, als wäre er Teil dieser Natur, dieser Ruhe. Dann drehte er sich zu ihr um, blickte sie, sein Gesicht von dem sanften Licht beleuchtet, an, blickte in sie hinein, schien es ihr, intensiv und doch schüchtern, und etwas in ihr fiel an seinen Platz, so fühlte es sich an, ja, auch wenn sie nicht sagen konnte, was es war. Ein Kribbeln, dort, wo das Herz süße Gedanken nährte, ließ sie erschauern, und sie ließ es zu, ein paar Sekunden zumindest, dann lachte sie sich innerlich aus. In achtundvierzig Stunden saß sie wieder in ihrer Wohnung in Stuttgart, das bunte Blinken der nachbarlichen Lichterkette im Wohnzimmer und ein unbeantwortetes Sehnen in ihrem Körper. Verlieb dich nicht, Kati, warnte sie sich selbst und wunderte sich noch über die Wortwahl. Flirten, darin war sie Weltmeistern. Lieben, darin nicht.
»Mir ist kalt«, sagte sie abrupt und sah die Enttäuschung in Chaspers Gesicht, ganz kurz nur, dann strahlte er wieder dieselbe neutrale Gelassenheit aus wie bei ihrer Begrüßung.